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Auszug aus dem ersten Kapitel

 

Eine warme Brise trägt mich sanft hierhin und dorthin. Stille. Nichts. Nur Wärme. Eine Stimme dringt

zu mir durch, holt mich zurück. Ruhig und bestimmt.
“Drei, Sie kommen zurück - zwei, Sie werden jetzt aufwachen - eins, Sie öffnen Ihre Augen und können sich an alles erinnern.”
Dr. Albrechts Stimme erreichte mich wie aus weiter Ferne. Die Bilder hinter dem Nichts verblassten. Dr. Albrecht - ich erinnerte mich an ihn. Er hatte mich hypnotisiert.
Gerade noch hatte ich mich als zwölfjährige Version meiner Selbst gesehen. Dunkelblond, schlank, mittelgroß, volle Lippen und graue Augen. Jung und verletzlich. Traurig. Eigentlich mochte ich mich mit zwölf…
“Das haben Sie gut gemacht, Isabell,” lobte Dr. Albrecht und schaltete den Kassettenrecorder ab. Folgsam öffnete ich meine Augen und nahm einen tiefen Atemzug.
Dr. Albrecht sah auf seine Armbanduhr, dann auf die Wanduhr. Wahrscheinlich, um sicherzugehen, dass es tatsächlich schon so spät war. Es wurde kühler, roch nach Bohnerwachs. Der bequeme Liegesitz, auf dem ich die letzte halbe Stunde verbracht hatte, drückte mich auf einmal hier und da.
“Mhmm.” Ich reckte und streckte mich ausgiebig. Es dauerte immer eine Weile, bis ich mich wieder an ‘Heute’ gewöhnt hatte.
‘Heute’ - das war im Sommer 1977, in meiner Heimatstadt Karlsruhe.
Ich war schon fünfzehn und meiner Meinung nach ein ganz gewöhnlicher Teenager. Ich machte Sport, mochte Musik, hatte ab und zu einen Pickel und lehnte mich gegen meine Eltern auf. Deswegen war ich hier. Meine Eltern waren nämlich der Meinung, ich sei zu ‘schwierig’. Rebellisch sogar. Dr. Albrecht sollte dem Abhilfe schaffen.
Verkehrslärm schallte zu uns herauf. Der Kaffee auf dem breiten Arztschreibtisch roch schal und die Uhr an der weißen Wand gegenüber zeigte 14.30 Uhr an. Eine Straßenbahn klingelte. Die Gegenwart hatte mich wieder.
Diese neuartige Hypnose-Behandlung dauerte nun schon ganze zwei Monate und förderte so einiges aus meiner frühen Kindheit zu Tage. In den siebziger Jahren wurden gern solche neuen Methoden ausprobiert, man fand das wohl modern. Mir sollte es recht sein.
“Wir haben noch Zeit uns die wichtigsten Stellen auf dem Band anzuhören. Und ich habe da noch ein paar Fragen an Sie.”
“Klar doch Doc,” sagte ich keck.
Ich setzte mich auf und sah zu, wie er sich mit dem Kassettenrecorder zu schaffen machte. Soweit ich es beurteilen konnte, war Dr. Albrecht schon steinalt.
Mindestens dreißig. Sein schütteres Haar und die Krähenfüße um die bebrillten Augen waren ein klares Zeichen fortgeschrittenen Alters. Außerdem trug er einen weißen Arztkittel und sprach mich immer mit ‘Sie’ an. Er musste ziemlich clever sein und erinnerte mich an ein Poster von Albert Einstein. Nur, dass er nicht so verrückte Haare hatte.
Dr. Albrecht war der einzige Erwachsene, der mir richtig zuhörte.
Das mit der neuen Therapie war an sich ‘ne tolle Sache. Am Anfang hatte ich natürlich keine Lust dazu gehabt, aber dann gewöhnte ich mich dran. Unter Hypnose erlebte ich alles genauso wie damals, nur dass ich eben dabei die Kontrolle hatte. Hinterher redeten wir immer darüber. Diesmal hatten die Erinnerungen mit einem Telefongespräch begonnen, das ich als Zwölfjährige mit meinem Vater führte.
‘Papa, sie liegt einfach nur im Bett und sagt nichts und starrt die Wand an. Ich hab’ Angst. Komm’ nach Hause!’
‘Bist du sicher, dass sie nicht einfach nur wieder schmollt? Ich habe soviel Arbeit heute. Warst du wieder frech zu ihr?’
‘Nein, ganz bestimmt nicht. Wir haben nichts angestellt.’
Meine ältere Schwester Evelyn fing zu heulen an und meine kleine Schwester Paula verkroch sich unter dem Esstisch.
‘Hat sie was eingenommen?’
Das wussten wir nicht. Sie nahm immer so viele Pillen. Papa beeilte sich nach Hause zu kommen und ein Ambulanzfahrzeug nahm meine Mutter mit. Wir fühlten uns schuldig, weil Papa nicht mit uns redete. Meine Mutter war danach für zwei Monate in ‘Kur’ gegangen.
Während dieser Zeit schickte uns die Krankenkasse eine heftige Walküre von einer Pflegerin, die sich um die Familie kümmerte. Sie hatte eine unmoderne Hochfrisur und kommandierte uns mit schriller Stimme herum… Dr. Albrecht stoppte die Aufnahme.
“Wie empfanden Sie die Abwesenheit ihrer Mutter?” fragte Dr. Albrecht.
“Hmm, irgendwie schuldig und ich mochte die Pflegerin noch weniger als meine Mutter,” meinte ich und beantwortete noch drei oder vier weitere Fragen. Ich hatte es gelernt meine Gefühle in Worte zu fassen. Das war garnicht so übel.
“So ich glaube, das reicht für heute,” sagte der gute Doktor dann auf einmal.
Ich sah verdutzt zur Wanduhr auf. Es war schon kurz nach drei. Höchste Zeit. Der Psychologe setzte noch einen letzten Kringel hinter seine Notizen und begab sich wie immer in den ledernen Stuhl hinter dem Schreibtisch.
“Tja, wir sind fast am Ende unserer Therapie angelangt,” meinte er auf einmal und warf seinen Kugelschreiber in eine flache Glasschale. “ Ein voller Erfolg. Sie können stolz auf sich sein, Isabell. Wir brauchen noch eine…vielleicht zwei Sitzungen.”
“Ja, vielleicht. Ich muss jetzt gehen,” sagte ich ungeduldig und schlängelte mich aus dem weichen Liegesessel heraus. “Morgen schreiben wir eine wichtige Klausur.”
Dr. Albrecht schob seine Goldbrille zerstreut den Nasenrücken hinauf. Er wollte anscheinend noch etwas sagen. Ich pflanzte mich zappelig auf den Holzstuhl vor dem Schreibtisch und sah ihn erwartungsvoll an.
Kaum jemand wusste von der Therapie und ich sprach eigentlich nie mit meiner Familie darüber. Das war mir zu peinlich. Die Mädchen in meiner Klasse waren viel zu unreif, um sowas wie Hypnose zu verstehen. Die hätten sich bestimmt über mich lustig gemacht. Nur meine beste Freundin Renate wusste davon und war Ok damit.
‘Ist das nicht Klasse? Ein richtiger Psychologe,’ hatte ich ihr nach der ersten Sitzung begeistert berichtet.
‘Wozu brauchst du einen Psychologen?’ Sie sprach das Wort aus, als handle es sich um verdorbenes Essen.
“Na, du weißt ja, meine Mutter und der ganze Mist.”
‘Warum geht sie dann nicht zum Psychologen?’
‘Vielleicht weil sie erwachsen ist?’
Vielleicht sollte ich nicht mal mehr Renate von meiner Mutter erzählen. Sie könnte noch denken, ich sei genauso verrückt.
‘Das ist der einzige Grund? Erwachsene haben wohl immer recht, was?”
‘Was denn sonst?’
‘Wie bekloppt. Ich bin froh, dass meine Mutter einigermaßen Ok ist.’
Ihre Mutter war geschieden und arbeitete halbtags. Renate war ein Schlüsselkind, das von Vollzeit-Müttern gebührlich bedauert wurde.
‘Ja, du hast’s gut.’
‘Trau’ keinem über dreißig,’ hatte Renate mich gewarnt. ‘Du kannst das nicht alles für bare Münze nehmen was der Typ dir verklickert.’
Ich vertraute Dr. Albrecht aber trotzdem.
Renate war dünn und hatte lange dunkel-gefärbte Haare. Einfach Klasse. Das einzige Mädchen in der Klasse, das es wagte, sich die Haare zu färben. Ihre dunklen Augen waren fast zu groß für das kleine Katzengesicht und der schmale Mund zeigte oft einen zynischen Zug. Das war eben ihre Art mit einer unfreundlichen Welt umzugehen. Zynisch war gut. Renate war nicht so verbiestert wie andere Mädchen, nur ein wenig spröde eben. Es gab unserer Freundschaft genau die richtige Distanz.
‘Frau Beilstein ist hier,’ knarrte die Sprechanlage auf dem Schreibtisch. Dr. Albrecht drückte auf einen Knopf. “Danke Elisabeth. Eine Minute noch.” Was mir der gute Doktor in dieser ‚Minute‘ sagte, war verblüffend: weil ich ein so gutes Subjekt sei, wolle er die Sitzungen fortsetzen. Inoffiziell. Wie bitte?
“Sie würden sich hervorragend für meine experimentellen Versuche eignen, Isabell. Als Erweiterung meiner Arbeit mit Jugendlichen möchte ich Patienten weiter zurückführen. Vielleicht haben Sie schon mal was von Regression gehört.”
Ich dachte nach. “Nein, was ist das denn?”
Um die Sache zu beschleunigen, erklärte er es mir kurz und bündig. Wir hatten nur eine Minute Zeit! Ich rutschte auf dem Stuhl hin und her.
“Sie meinen – bevor ich geboren wurde?”
“Sozusagen. Ich werde ein Buch darüber schreiben.”
“Sozusagen? Aber das ist doch unmöglich! Wir leben doch nur einmal.”
“Das ist ja genau das, was ich erforschen möchte. Mit Ihrer Hilfe. Es gibt da schon einige dokumentierte Fälle in den Vereinigten Staaten. Dr. Stephenson zum Beispiel. Sie sind zwar noch minderjährig, aber wir könnten ihr Geburtsdatum und den Namen ändern. Nur zu Forschungszwecken.”
Aha, ein Geheimnis! Das nahm ja eine interessante Wendung. Dr. Albrecht hatte wahrscheinlich jedes erdenkliche Buch zu dem Thema gelesen. Er erzählte mir von einer Frau, die sich doch tatsächlich an ein früheres Leben erinnerte. Das konnte ich bestimmt auch.
“Was ist, wenn man in...Timbuktu gelebt hat, spricht man dann auch…”
“Arabisch? Vielleicht. Das heißt Xenoglossie. Wenn man unter Hypnose in einer Fremdsprache spricht, die man nie gelernt hat.”
Xenoglossie - ein ziemlicher Brocken von einem Wort. Dass es so etwas überhaupt gab! “Hmm, weiß nicht so recht. Hört sich ‘n bisschen komisch an. Außerdem muss ich viel auf die Schule lernen,” protestiere ich halbherzig.
“Ich überlasse Ihnen die Entscheidung. Wenn Sie nicht wollen, finde ich schon jemanden. Die Schule geht ja vor. Das ist vollkommen normal.”
Ich hasste das Wort ‘normal’.
“Warum ausgerechnet ich? Haben Sie die anderen Patienten auch gefragt? Ich bin doch erst Nummer 13 auf Ihrer Liste von ‘schwierigen Jugendlichen’.” Das war ironisch gemeint, das mit der 13.
“Ja, ich werde es auch mit anderen Patienten versuchen. Aber Sie eignen sich dazu bisher am besten, denke ich.” Denkt er!
“Klasse, Ihr bestes Versuchskaninchen.”
“Sozusagen.”
“Ich muss mir das erst mal überlegen.”
“Natürlich, nehmen Sie sich Zeit, Isabell. Nur nicht zu lange. Bis nächstes Mal? Elisabeth, Sie können jetzt —”

Das Gespräch hatte natürlich länger als eine Minute gedauert. Eher zehn. Ich war hervorragend geeignet und meine Mutter würde die Motten kriegen, wenn sie davon wüsste. Hah. “Ok, ich hab’s mir überlegt,” sagte ich schnell. “Ich mach’ mit.”
Der Doktor brauchte mich. Nicht als Patientin, sondern als sein bestes Versuchskaninchen. Nicht die anderen. Mich. Die fünfzehnjährige Isabell. Ich würde in seinem Buch vorkommen. Das machte mich irgendwie stolz. Nur unter einem anderen Namen und älter, aber das war ja egal. Durfte sowieso niemand was davon wissen.
Wir vereinbarten noch einen Termin am folgenden Donnerstag um die gleiche Zeit. Dann drängte ich mich an der fleischigen Frau Beilstein vorbei und sauste die breite Treppe hinunter. Unten angelangt öffnete ich flugs das Schloss an meinem Fahrrad und wollte mich schon auf den Sattel schwingen, da musste ich an die gerundete Figur meines anderen Ichs denken. Ich sah kritisch an mir herab. Von Rundungen und einem wohl entwickelten Busen war an meinem schlanken Körper nicht viel zu sehen. Zwei sanfte Wölbungen wo andere Mädchen in meinem Alter schon ordentlich was drauf hatten. Egal, beschloss ich, wenigstens kann ich Sport machen!
Als ich so auf meinem Fahrrad durch den Nachmittagsverkehr nach Hause strampelte, dachte ich nochmal über alles nach. Ich musste kichern und wäre fast bei Rot über die Ampel gefahren. Eine Straßenbahn klingelte wie wild.
Dr. Albrecht machte sich viel Mühe, die frühen Erinnerungen aus mir herauszulocken. Endlich interessierte sich mal jemand für meine Gefühle. Eine tolle neue Methode, das mit der Hypnose. Dabei hatte ich mich am Anfang total dagegen gesträubt. Die Fahrradreifen knatterten über die Bordsteinkante. Ich nahm eine Abkürzung und fuhr zu dicht an einer alten Frau vorbei, die ihren Dackel spazierenführte.
“He, du Lümmel!”
“Tschuldigung!” rief ich halbherzig zurück.
Hier in der Gegend gab es nur Wohnungen. Ich mochte die alten Sandsteinbauten entlang der breiten Straße lieber. Hier wohnten die Reichen.
Bestimmt waren die Räume groß und elegant mit riesigen Fenstern und Balkonen, edlen Teppichen und Möbeln, von denen man nur träumen konnte. Wir dagegen wohnten in einer Sozialwohnung im billigen Viertel, weil meine Eltern drei Kinder hatten.
Ich bog um die vertraute Ecke in unsere Straße und dachte zum hundertsten Mal, wer wohl die idiotische Idee hatte das Haus Nummer 8 senfgelb anzustreichen. Wenn man hochblickte, bewegten sich Spitzengardinen von unsichtbarer Hand. Ich legte das Fahrrad an die Kette und stieg die Treppe hoch. 2 Stufen auf einmal.
“Isabellchen!”
Ich wäre fast in Frau Speidel hinein gestolpert, die Tratschtante von ganz oben. Sie fügte meinem Namen immer ein -sche an. Eigentlich an die Namen aller, die sie als Kinder ansah. Frau Speidel gehörte zu der Gruppe Erwachsener, die es sich anscheinend zum Ziel gemacht hatten, mir mein Leben zu erschweren.
“Isabellsche! Wart e Momentle...”
Sie musste ihr halbes Leben im Treppenhaus verbringen, so oft wie man sie dort antraf. Das Treppenhaus war wie eine Hauptstraße in einem senkrechten Dorf. Frau Speidel wusste so ziemlich alles über jeden im Haus. Ach was, alles über jeden in der ganzen Straße. Und über alle Filmschauspieler noch dazu.
“Oh, tut mir leid, wiederseh’n Frau Speidel.”
Ich schaffte es, mich auf den nächsten Treppenabsatz zu retten. Außer Sichtweite war es leichter sich aus dem Staub zu machen.
“Also... habt ihr denn so lang Schul’?” rief sie neugierig hinterher.
“Ja.”
“Also weisch,... zu meiner Zeit…” Da ich ließ schon die Tür zur Wohnung ins Schloss fallen. Der Geruch von Eintopf.
“Hast du was gegessen?” fragte meine Mutter aus der Küche. Sie wollte reden. “Ja,” log ich und verzog mich schnell ins Kinderzimmer.
Ich konnte auf keinen Fall die Therapie diskutieren. Nicht nur, weil ich keine Lust dazu hatte. Meine Eltern durften auch nichts von dem Experiment bei Dr. Albrecht erfahren. Mit denen konnte man sowieso nicht reden. Sie waren meiner Meinung nach total verbohrt. Konventionell und engstirnig. Mit fünfzehn hatte ich schon eine gute Vorstellung davon, was das bedeutete. Schließlich redete jeder über Konventionen. Meine Eltern, das waren Walter und Hannelore Bertrand. Kein ideales Ehepaar.
Papa arbeitete an der Technischen Universität und kam jeden Tag zum Mittagessen nach Hause. Abends reparierte er oft noch Fernseher, um mehr Geld zu verdienen. Drei Kinder waren ein teurer Spaß. Er gab seinem ‘Vatersein’ die Schuld an denen sich lichtenden Haupthaaren und die Kochkunst meiner Mutter war für seine füllige Mitte verantwortlich. Königsberger Klopse vor allem, seine Lieblingsspeise. Am Anfang hatte ich sie auch mal gemocht, aber so oft wie die’s bei uns gab, hatte ich meine Meinung jetzt geändert. Ich wollte Müsli.
Hinter der Bezeichnung ‘technischer Angestellter’ verbarg sich der wichtigste Mann an der Uni. Als wir noch jünger waren, sieben oder acht, hatte er Evelyn und mich manchmal mit zur Arbeit genommen. Sein Auto hatte einen angestammten Platz in der Tiefgarage und Papa hatte sein eigenes Büro mit Werkstatt. Bunte Kabel mit Klemmen hingen von Regalen voller Werkzeuge und Schrauben herab.
Er erklärte uns geduldig, was er so machte. Papa konnte einfach alles und wurde oft angerufen. Dann musste er gehen.
Wir drehten uns auf dem Schreibtischstuhl links und rechts und tranken Cola für 50 Pfennige aus dem Flaschenautomaten im gebohnerten Gang. Die große schwenkbare Lupe über dem Schreibtisch war unser Lieblingsspielzeug. Wenn man die kleine Lampe daran anknipste, war darunter alles riesig zu sehen. Zigarrenstummel im Aschenbecher, Schrauben und Briefmarken. Papa hatte uns früher gern um sich gehabt. Etwas davon war manchmal noch zu spüren.
Er liebte seinen Schrebergarten, wo er in einem großen Beet die Atmosphäre von Masuren nachempfand. Mit Pflanzen aus dem nahen Schwarzwald.
Papa war in Masuren aufgewachsen und sehnte sich oft nach seiner Heimat zurück. Der Schwarzwald erinnerte ihn an Masuren, sagte er.
Meine Mutter war Hausfrau. Eine, die immer adrette Schürzen trug, immer kochte und ständig unsere Vierzimmer-Wohnung putzte. Ihre blonden Haare hatten wohl mal füllig geglänzt, aber zuviele Dauerwellen, die jede anständige Hausfrau unbedingt benötigte, hatten ihnen den Garaus gemacht. Das Ergebnis erinnerte mich eher an Schafswolle. Manchmal kam ich aus der Schule nach Hause und fand das Wohnzimmer abgeschlossen vor.
‘Ihr macht mir nur alles wieder schmutzig und ich habe mich den ganzen Morgen mit den Sofas abgeplagt,’ sagte sie dann mit wenigen Variationen, und sowas wie ‘Isabell, du kannst gleich den Mülleimer runter tragen und dann das Geschirr spülen. Komm, komm, keine Müdigkeit vorschützen!” sagte sie mit so vielen Variationen, dass ich schon garnicht mehr zuhörte. Sie putzte auch eifrig die Fassade der Familie, denn ‘was sollen denn die Leute denken...‘. Als ob das irgendwen interessierte.
Dabei war meine Mutter nicht immer Hausfrau gewesen. Sie trauerte ihren glorreichen Tagen als Oberschwester im Kurkrankenhaus Baden-Baden nach, von denen wir natürlich jede Einzelheit kannten.
‘Ja, Emmerich Kalman war einer meiner Patienten. Da, die Vase hat er mir zum Abschied geschenkt. Nein die mit den Fischen drauf. Nur die reichsten und wichtigsten Leute kamen zum Kuraufenthalt nach Baden-Baden.’ Wir hatten keine Ahnung, wer Emmerich Kalman war. Oder die meisten anderen Namen, die sie immer einfließen ließ.
Unsere Mutter liebte so langweilige Radiomusik von Tschaikowsky und dem Holzschuhtanz und sie liebte es, uns im Befehlston bei unseren häuslichen Pflichten anzutreiben. Am meisten hasste ich Fensterputzen. Sie duldete keine Widerrede.
Wenn wir es wagten krank zu werden, wurden wir tagelang ins Bett gesteckt und fachgerecht gepflegt. Wir bekamen Haferschleim und Kamillentee und Besuchszeiten waren begrenzt. Da war es besser gesund zu bleiben.
Mittlerweile wusste ich, dass meine Mutter wegen ihrer schwierigen Kindheit so war, wie sie war. Anscheinend hatte sie so eine Art Vertrag mit Papa geschlossen, dass er sie immer gegen die Kinder unterstützen musste, egal was.
Wenn sie einen ihrer Wutanfälle bekam, hatte sich Klein-Isabell in Schränke verkrochen. Bestimmt hatten meine Magenkrämpfe und Kopfschmerzen etwas damit zu tun. Dann versteckte ich mich einfach so, auch wenn sie mal wieder gute Laune hatte. Ich traute ihr einfach nicht.

Als ich älter wurde, begann ich mich aufzulehnen.
‘Du hast jedes Recht dich zu wehren,’ hatte Renate gesagt, als ich ihr mal einen besonders blauen Fleck zeigte. “Warum sollst du ausgerechnet Fensterputzen, wenn du zu müde dazu bist und auf die Klausur lernen musst?” Und das tat ich dann auch. Ich wehrte mich. Das heißt, ich flüchtete.

Bei jeder Gelegenheit fuhr ich mit meinem Klappfahrrad in den Schlosspark, der sich in meilenweiter Freiheit ausbreitete. Endlich Ruhe! Der Park nahm mich in seine grünen Arme, wenn ich Sorgen hatte und tröstete mich. Ich liebte die Ruhe, ich liebte die Anlagen, den See und die bunten Azaleenbüsche. Hier spielte ein paar geduldigen Zuhörern auf meiner Gitarre vor. ‘If I had a Hammer’ und ‘Blowing in the Wind‘ und all so was.
Danach schwang ich mich wieder auf den Sattel und fuhr mit der baumelnden Gitarre am Lenkrad wieder nach Hause. Am liebsten hätte ich ja im Park gewohnt. In einem schönen Haus, viel kleiner als das Schloss. In einem der Teehäuser, vielleicht. Das wäre dann mein richtiges Zuhause gewesen.
Meine Schwester Evelyn war ein Jahr älter als ich und schon fast genauso launisch wie meine Mutter. Paula war drei Jahre jünger und das verzogene Nesthäkchen. Beide hatten im Gegensatz zu mir eine helle, sommersprossige Haut und hellblonde Haare. Genau wie unsere Mutter.
Kein Wunder also, dass ich ‘anders’ war. Ich sah anders aus, war unfügsam und aufmüpfig und hatte mich zum schwarzen Schaf der Familie entpuppt. Ein Teenager, der sich einfach nicht anpassen wollte. Ein Rebell.
Wir Kinder stritten uns meist genau wie unsere Eltern, aber oft handfest und unfair, mit Kinnhaken und Haareziehen. Irgendwann würde ich mein eigenes Haus haben, träumte ich, wenn ich im Schlosspark war. Dort würde es ruhig sein. Friedlich. Streiten verboten. Ich hatte die brillante Idee gehabt aus dieser Kriegszone wegzuziehen. Zu meiner Großmutter, die in einer kleinen Einzimmer-Wohnung zwei Häuser weiter wohnte.
Oma Bertrand war Papas 82-jährige Mutter. Eine ehrwürdige, calvinistische Witwe, die immer in lange schwarze Kleider und graue Schürzen gekleidet war. Oma Bertrand kam uns Kindern fast wie ein Dinosaurier vor, so alt war sie. Ihr dünnes weißes Haar war zu einem streng geflochtenen Knoten hochgenadelt, ihre Haut war verrunzelt und voller Altersflecken, aber ich liebte sie.
Mir machte es nichts aus. Sie mochte mich und meinte oft, wie sehr ich der Familie ihres gefallenen Mannes glich. Wie konnte ich sie da nicht lieben? “Es waren französische Hugenotten, mein Kind. Adelige, denen der Preußenkönig Friedrich Wilhelm II vor Generationen Land in Ostpreußen gegeben hatte. Dann mussten wir alles zurücklassen und vor den Russen flüchten.”
Die Geschichte mit der Flucht über die Danziger Bucht kannte ich schon auswendig. Angeblich waren die Bertrands ziemlich gutaussehende Adelige gewesen. Papa glich ein wenig einem jungen Marlon Brando. Das sagten zumindest alle. Nicht schlecht für mich.
Oma Bertrand lächelte zahnlos und seufzte, wenn sie sich an ihren Mann erinnerte, dem sie zehn Kinder geschenkt hatte. Sie sah dann fast wieder schön aus. In der Wohnung meiner Eltern ging derweil der Krieg für die Bertrands weiter.
“Sie zieht mir auf keinen Fall zu deiner Mutter. Du hast versprochen, sie in meinem Glauben zu erziehen. Außerdem ist Isabell viel zu jung, um auszuziehen,” hörte ich meine Mutter eines Abends aufbrausen, als ich mal wieder im Flur lauschte. Mein Herz sank. Ich durfte nicht zu Oma Bertrand ziehen.
“Na gut, Hannelore, wie du meinst.” Papa hatte offensichtlich keine Lust sich auf ein Streitgespräch einzulassen. “Dann zieht sie eben nicht zu meiner Mutter.”
“Vielleicht hat sie ja einen Gehirntumor.” Ich schnappte nach Luft.
“Hannelore, sie ist in der Pubertät. Da ist es doch normal rebellisch zu sein. Die Schule ist wohl auch anstrengend. Der Stoff wird ja immer schwieriger.” Papa faltete seine Tageszeitung zusammen und legte sie neben den Aschenbecher. Oje, ging jetzt wieder ein Streit los?
“Aber Evelyn und Paula schaffen ihre Schularbeit doch auch und Magdas Tochter hat keine Probleme mit ihrer Schule. So ein braves Mädchen.”
Magda Pfeiffer arbeitete bei der Post und war ungeheuer langweilig. Außerdem war sie die einzige Freundin meiner Mutter. Wahrscheinlich, weil sie ihr nie widersprach. Papa hielt das auch für das Beste.
“Hast du gesehen, wie zornig Isabell mich heute angeschaut hat?” fuhr sie fort, so richtig schön in Fahrt. ”Nach allem was ich für die Kinder tue. Undank ist der Welten Lohn. Sie meinte doch tatsächlich, dass Adam und Eva in der Bibel nur symbolisch gemeint seien. Kannst du das glauben?” zeterte meine Mutter weiter. “Wo sie nur solche Sachen herhat? Vielleicht sollte ich morgen gleich einen Termin beim Arzt machen.” Ich hatte den Verdacht, dass es dabei weniger um mich ging. Sie hatte eine Schwäche für Ärzte.
“Na gut, wenn du meinst, es sei unbedingt notwendig unsere Isabell wieder zu irgendeinem Quacksalber zu schleppen, dann mach’ das. Du hörst ja doch nicht auf mich.” Papa zündete eine Zigarre an. Süßlicher Rauch durchzog den Flur.
“Walter, wie kannst du so etwas sagen? Ich höre zu.”
“Ich habe dir doch gerade gesagt, dass mit ihr nichts verkehrt ist. Nur weil sie eine andere Meinung ist, hat sie noch lange keinen Gehirntumor. Vielleicht solltest du sie einfach in Ruhe lassen, dann gehen die Kopfschmerzen schon wieder weg.”
“Aha, jetzt ist es also wieder meine Schuld. Isabell bringt es immer fertig sich zwischen uns zu drängen. Wir zanken uns schon wieder ihretwegen. Ich arbeite mich schließlich in Grund und Boden für dich und die Kinder. Da darf ich wohl ein wenig Respekt erwarten.”
Meine Mutter fing an zu schluchzen. Es ging auf die gefährliche Grenze zu. Ich musste mich einschalten, sonst würden sie sich wieder stundenlang in die Haare kriegen. Ich platzte ins Zimmer und fing an wie ein Rohrspatz zu schimpfen.
“Könnt ihr euch mal einen Tag nicht streiten? Verdammt, da kann sich ja kein Mensch beim Lernen konzentrieren!”
Die beiden sahen mich verblüfft an.
“Da hörst du’s Walter,” rief meine Mutter, “Sie flucht und schimpft, als wäre ich ihre Dienstbotin. Ihr gehört eine ordentliche Tracht Prügel!”
Mein Vater schickte mich mit einer Kinnbewegung aus dem Zimmer und musste sie trösten. Das Schluchzen verstummte. Mein Eingriff hatte gewirkt. Immerhin ging das Gespräch jetzt in normalem Ton weiter.
“Ich bin mir nicht sicher, dass Prügeln da einen Unterschied macht. Um ehrlich zu sein, glaube, es macht es alles nur noch schlimmer.”
“Wieso? Mir hat das als Kind doch auch nichts geschadet.”
Mein Vater hüstelte wissend, aber es war sinnlos mit ihr zu diskutieren.
“Ich sehe schon, ich rede doch nur gegen die Wand. Ich brauche jetzt meine Ruhe,” sagte er. Papa nahm seine Pfeife und setzte sich hinten auf den Balkon, um wie so oft die Sterne anzusehen, während meine Mutter in der Küche mit dem Geschirr herumklapperte.
Meine Mutter setzte sich durch, sie war angeblich mit ihren ‘Nerven am Ende’. Ich musste wieder in die Klinik zu einer Untersuchung. Meine Patientenakte war sicher schon am Platzen. Mein schreckliches Benehmen wollte sich trotz der Schläge einfach nicht bessern. Außerdem ich hatte es gewagt, zurückzuschlagen. Das passte Papa wiederum nicht.
Alles nur wegen so einem blöden Buch.



 

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